Die Grenzen sind offen, die Einkaufstouristen wieder unterwegs. Alles normal? Nicht ganz Einkaufen in Deutschland, spazieren im Elsass, ein Kaffee in Annemasse – nach drei Monaten ist das wieder möglich. Die Maskenpflicht in den Geschäften wird manchmal radikal, manchmal gar nicht umgesetzt. Daniel Gerny, Basel, und Antonio Fumagalli, Genf 15.06.2020, 16.00 Uhr Der Einkaufswagen des Rentnerehepaares aus der Schweiz ist schon so vollgepackt, dass wohl gleich ein zweiter Wagen hermuss. Morgens um 9 Uhr 30 herrscht im Rheincenter im deutschen Weil am Rhein Hochbetrieb, jedenfalls für einen Montag. So wie das Ehepaar nutzen zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer den ersten Moment, um endlich wieder in Deutschland einkaufen zu können. Ins Parkhaus des Einkaufszentrums fahren vor allem Fahrzeuge mit Schweizer Kennzeichen, und das 8er-Tram, das Basel mit Weil verbindet, ist endlich wieder gut besetzt. Alles normal? Alles normal, wäre nicht diese eigenartige, beinahe feierliche Stimmung des Augenblicks. Die partiellen Grenzschliessungen im März führten dazu, dass den Baslern ein grosser Teil ihres Umlandes abhandenkam – eine mitunter surreal wirkende Beschränkung des Lebensraums. Nun fühlt es sich für viele Franzosen, Deutsche und Schweizer an, als ob die Region wieder richtig zu atmen begänne. Einkaufen nur mit Maske Für das Rheincenter, eine riesige Mall wenige Meter von der Schweizer und der französischen Grenze entfernt, hatten die letzten Monate schwerwiegende Folgen. Fast 80 Prozent der Kundinnen und Kunden kommen aus dem Ausland (60 Prozent aus der Schweiz), nur eine Minderheit stammt aus Deutschland. Mehr als ein Drittel aller Kunden kommt jede Woche hierher – weshalb die Corona-Krise fatal war: Über die Hälfte des Umsatzes sei in dieser Zeit weggebrochen, erklärt die Center-Managerin Alev Kahraman gegenüber der NZZ. Nun bereitet man sich auf die Rückkehr der Kunden aus dem Ausland vor. Für alle Fälle hat man das Sicherheitspersonal kräftig aufgestockt, und am Eingang ist ein Stand mit Schutzmasken aufgebaut. Im Unterschied zur Schweiz besteht in Deutschland in den Geschäften eine Maskenpflicht. Doch die Vorsichtsmassnahme erweist sich als überflüssig, wie Kahraman feststellt: Zum Ansturm kommt es nicht. Die Schweizer Kundinnen und Kunden sind über die Regeln bestens informiert und fast ausnahmslos mit Masken ausgerüstet. Einige hundert Meter weiter brummt das Geschäft ebenfalls. Hier hat MyDepot sein Lager – ein Anbieter für Postfächer in Deutschland, die in der Region rege genutzt werden. Wer im Internet Ware aus Deutschland oder der EU bestellt, die nicht oder nur mit grossem Preisaufschlag in die Schweiz geliefert wird, lässt sich die Pakete hierherschicken. Während des Lockdowns war es praktisch unmöglich, Ware abzuholen – auch wenn sich zur Not und mit Schlaumeierei immer ein Weg finden liess. Nun sind die MyDepot-Lager übervoll. Es sei höchste Zeit, dass die Ware endlich abgeholt werde, stöhnt ein Mitarbeiter und reicht Paket um Paket heraus. Auf dem Parkplatz fahren ausschliesslich Autos aus der Schweiz zu und weg. Anliegen der Grenzregionen zu wenig berücksichtigt Auch wenn die tieferen Preise und Schnäppchen in Deutschland Haupttreiber für die Betriebsamkeit sind, dreht sich im Dreiländereck längst nicht alles nur um den Einkaufstourismus. Der trinationale Wirtschaftsraum bestand hier schon lange vor der Personenfreizügigkeit. Die chemische Industrie, aber auch das Gesundheitswesen sind auf Grenzgänger angewiesen. Der Anteil der Arbeitnehmer mit Wohnsitz im Ausland ist hoch. Während der Corona-Krise blieb der Zoll für sie deshalb offen. Grenzgänger werden in der Region Basel anders als im Tessin mehrheitlich als Ausdruck einer wirtschaftlich gesunden Entwicklung angesehen. Schon zwischen den zwei Weltkriegen fuhren Baslerinnen und Basler mit dem Tram ganz selbstverständlich direkt nach Lörrach. Und ein altes Gesetz erlaubte es den Elsässer Bauern schon im letzten Jahrhundert, ihre Produkte in Basel erleichtert und zu günstigen Zoll- und Steuertarifen zu verkaufen. Die drei Länder arbeiten auch kulturell und verkehrsmässig eng zusammen. Für viele Baslerinnen und Basler sind das Elsass und Süddeutschland nicht nur distanzmässig deutlich näher als andere Regionen in der Schweiz. Dass das Ende der Reisebeschränkungen auf der Dreiländerbrücke mit einem Treffen zwischen der baselstädtischen Regierungspräsidentin Elisabeth Ackermann, Brigitte Klinkert, Präsidentin des Departementes von Haut-Rhin, sowie Marion Dammann, Landrätin des Landkreises Lörrach, mit Blumensträussen in den drei Landesfarben zelebriert wurde, mag Aussenstehenden zwar etwas pathetisch erscheinen, hier wirkt es aber authentisch. Grenzschliessungen dieser Art müssten in Zukunft unbedingt verhindert werden, meinte Ackermann beim kurzen Festakt. Bei allem Verständnis für die epidemiologisch bedingten Einschränkungen sind die drei Politikerinnen der Ansicht, dass die Interessen der Grenzregionen in der Krise zu wenig berücksichtigt worden seien. Nun müssten die Anliegen verstärkt nach Bern, Paris und Berlin getragen werden. Busfahrer öffnet die Tür nur Leuten mit Maske Eine direkte ÖV-Verbindung ins umliegende Ausland gibt es auch am westlichsten Ende der Schweiz, eine topmoderne noch dazu. Erst vor einem halben Jahr wurde der Léman Express, die S-Bahn-Verbindung zwischen Genf und der französischen Haute-Savoie, eingeweiht. An diesem Montagmorgen ist der Zug allerdings höchstens durchschnittlich frequentiert – und die meisten Passagiere steigen vor der Grenze aus. Ins französische Annemasse wollen zu dieser Uhrzeit gerade einmal fünf Passagiere. Diese jedoch tragen, anders als die noch in der Schweiz ausgestiegenen Passagiere, alle einen Mundschutz – denn in Frankreich gilt bis auf weiteres ein Maskenobligatorium im öffentlichen Verkehr. Ein Busfahrer öffnet Fahrgästen, die ohne Maske an der Haltestelle stehen, nicht einmal die Türe. Die Kleinstadt Annemasse wirkt so ruhig wie eh und je an einem Montagmorgen. Zahlreiche Läden sind noch geschlossen – und manche werden nie mehr öffnen. Ob ihnen die Corona-Pandemie den Todesstoss versetzt hat? An mehreren Schaufenstern kleben Plakate mit dem Slogan «Amazon hat mich getötet». Dafür wird wie wild gebaut, mehrere Wohnblöcke machen einen taufrischen Eindruck – die neue Zugverbindung hat die Region für Berufspendler, die von den höheren Schweizer Löhnen angezogen werden, noch attraktiver gemacht. Mehr Betrieb herrscht im Einkaufszentrum Shopping Etrembières direkt an der Autobahn, keine zehn Minuten von der Schweizer Grenze entfernt. Das Parkhaus ist gut gefüllt, rund jedes fünfte Auto hat Schweizer Nummernschilder. Auch hier gilt eine Maskenpflicht – was sich aber längst nicht alle Kunden zu Herzen nehmen. Die Geschäftsinhaber nehmen es mehrheitlich gelassen; sie sind froh, dass die Leute überhaupt wieder kommen. Der Einkaufstourismus kennt nicht nur eine Richtung So wie die Genferin Elena Laury, die sich mit ihrem Sohn auf den ersten Einkauf in Frankreich seit Monaten freut. Weil es einige Produkte in der Schweiz schlicht nicht gebe, aber auch, weil hier alles günstiger sei, sagt sie – und zitiert auf den Rappen beziehungsweise Cent genau den Preis einer speziellen Packung Zucker, die es identisch in beiden Ländern gibt. Sie habe nun sogar eine Woche darauf verzichtet, um ihn nun ennet der Grenze kaufen zu können. Alexia d’Andrea hingegen macht hier nur einen kurzen Zwischenstopp. Eigentliches Ziel ist der Besuch bei ihrer Familie, die in Frankreich wohnt und die sie nun drei Monate lang nicht sehen durfte. Die Erleichterung über den Lockerungsschritt sei gross, und sie hoffe, dass er nicht wieder rückgängig gemacht werden müsse. Am Grenzübergang Moillesulaz positionieren sich die Zollbeamten auffälliger als auch schon – als wollten sie den Einkaufstouristen signalisieren, dass die Gewichts- und Wertbeschränkungen nicht plötzlich auch aufgehoben sind. Ein Mann mittleren Alters scheint genau darauf gehofft zu haben: Beim Öffnen seines Kofferraums kommt Fleisch in rauen Mengen zum Vorschein. Auch Fussgänger passieren laufend die Grenze. Einige wollten aus Neugier einfach wieder einmal einen Abstecher ins Nachbarland machen. Viele führen aber eine Einkaufstasche mit sich, unter ihnen nicht wenige, die von Genf nach Frankreich spazieren. Tabak, Schokolade und manchmal auch Kleider und Elektronikartikel seien in der Schweiz günstiger, klärt ein älteres Ehepaar auf – und schreitet aufgrund der wiedergewonnenen Freiheit beglückt zurück in die französische Heimat.